Vorläufiger Rechtsschutz bei der Berufspendlerpauschale
BMF gibt sich „unbürokratisch” – Handlungsbedarf für Berufspendler
Dr. Michael Balke 1)
Nachdem in einem Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung im Zusammenhang mit einem Lohnsteuerermäßigungsverfahren für das laufende Jahr 2007 zunächst das FG Niedersachsen und danach der BFH ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Kürzung der Berufspendlerpauschale ab 1. 1. 2007 erklärt und den Antragstellern vorläufigen Rechtsschutz gewährt haben, will auch das BMF die Eintragung ungekürzter Pauschalen auf der Lohnsteuerkarte nach der bis zum 31. 12. 2006 geltenden Gesetzeslage „unbürokratisch” ermöglichen. Steuerbürger sollten im Zweifel vorläufigen Rechtsschutz beantragen und die Zahlung womöglich verfassungswidriger Steuern einstellen.
I. Wie alles vor wenigen Monaten begann
Der 7. Senat des FG Niedersachsen geht über die zeitnahe Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz einen neuen Weg hin zu effektiverem Steuerrechtsschutz in Verfassungsstreitverfahren (dazu schon Utermöhlen, NWB Beratung aktuell 17/2007, und Balke, NWB Beratung aktuell 33/2007). Nachdem der 8. Senat des FG Niedersachsen mit seinem Vorlagebeschluss v. 27. 2. 2007 - 8 K 549/06 QAAAC-40134 die Kürzung der Pendlerpauschale ab 1. 1. 2007 für verfassungswidrig hält und ein Verfahren über die Lohnsteuerermäßigung dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt hat (vgl. auch FG Saarland, Beschluss v. 22. 3. 2007 - 2 K 2442/06 VAAAC-41314 ), hat der 7. Senat des FG Niedersachen mit Beschluss v. 2. 3. 2007 - 7 V 21/07 UAAAC-40834 im Zusammenhang mit einem anderen Lohnsteuerermäßigungsverfahren die Aussetzung der Vollziehung beschlossen, d. h. die Eintragung eines Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte nach altem Recht (ohne Kürzung) angeordnet. Dies zum einen, weil ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung bestehen. Und, das ist das Besondere: Um zum anderen der „pro-futuro-Rechtsprechungspraxis” des BVerfG zu begegnen. Dazu führt der 7. Senat des FG Niedersachsen aus:
„Vor dem Hintergrund der pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hält das Gericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für notwendig. Gemeint sind die Entscheidungen, die – nach Erschöpfung des Rechtswegs zwangsläufig mit erheblicher Verzögerung – feststellen, eine gesetzliche Regelung sei verfassungswidrig und dem Gesetzgeber weiträumige Übergangsfristen einräumen, um die verfassungswidrigen Regelungen zu beseitigen. Darauf konnte sich der Fiskus in der Vergangenheit mehr und mehr
NWB Nr. 39 vom 24.09.2007 - 3398 -
verlassen. Mit der vorliegenden Entscheidung soll frühzeitig verhindert werden, dass der Fiskus womöglich verfassungswidrige Steuern vereinnahmt, verplant und später nicht mehr erstatten muss, so dass der verfassungsrechtliche Steuerrechtsschutz für die Bürger im Ergebnis weitgehend leer läuft.” Das Gericht stützt sich dabei insbesondere auf die Monographie von Habscheidt (Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, Köln 2003, S. 85 ff.) und auf die Aussage von Balke, wonach es nicht richtig sein kann, wenn das Unrecht nur groß genug sein muss, um es nicht mehr gutmachen zu müssen (in Harzburger Steuerprotokoll 1993, Köln 1994, S. 85, 97).
II. Die höchstrichterliche Entscheidung
Der VI. Senat des BFH hat den Vorstoß aus Hannover mit Beschluss v. 23. 8. 2007 - VI B 42/07 RAAAC-57515 bestätigt (dazu schon Kanzler, NWB Beratung aktuell 38/2007). Gleichzeitig hat der BFH dem Versuch des BMF, dem Eilverfahren beizutreten und dieses womöglich verzögern zu wollen, eine Absage erteilt: In einem Verfahren über den vorläufigen Rechtsschutz sei ein Beitritt der Spitze der Finanzverwaltung unzulässig. Der BFH betont seine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Wegfalls der ersten 20 Entfernungskilometer bei der Berufspendlerpauschale, wie vorher schon das FG Niedersachen, auch mit Hinweisen auf aktuelle verfassungsrechtliche Analysen von Tipke (Tipke, Festschrift für Raupach, 2006, S. 177 ff.; ders., BB 2007 S. 1525).
Danach ist die gesetzliche Kürzung der Entfernungspauschale ab 1. 1. 2007 verfassungswidrig. Dem objektiven Nettoprinzip als Subprinzip des Prinzips gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit entspreche der Abzug der Fahrtkosten von Berufspendlern, nicht aber das „Werkstorprinzip”. Die Hin- und Rückfahrtkosten der Berufspendler seien echte, nicht bloß fiktive Erwerbsausgaben. Dagegen sei das „Werkstorprinzip” weder mit dem objektiven noch subjektiven Nettoprinzip des Einkommensteuerrechts vereinbar. Es eigne sich nicht als „Grundentscheidung” für folgerichtige Ableitungen, somit nicht als Grundlage für fiskalische Sonderlasten der Berufspendler. Denn das „Werkstorprinzip” müsse dem Nettoprinzip entsprechen, nicht aber das „Werkstorprinzip” das Nettoprinzip – verfälschend – gestalten.
Die Fahrtkosten der Pendler seien auch deshalb in vollem Umfang Erwerbskosten, weil der Wohnort frei gewählt werden dürfe. Die Bestimmung des Wohnorts sei eine höchstpersönliche Entscheidung des Steuerpflichtigen, die auch der Steuergesetzgeber akzeptieren müsse. Da zudem ein Umzug aller Pendler in die unmittelbare Nähe der Arbeitsstätte nicht möglich oder nicht zumutbar sei, scheide auch aus diesem Grunde die Wohnortwahl als erheblicher Kausalfaktor aus. Gemischte Kosten lägen daher nicht vor. Auch die angebliche Haushaltskonsolidierung rechtfertige keine Sonderbelastung der Berufspendler. Das in den USA praktizierte „Werkstorprinzip” dürfe nicht unkritisch übernommen werden. Hier sei dringend ein Blick in den voluminösen Internal Revenue Code zu empfehlen. Die härteste, beißendste Kritik an diesem Code stamme von Amerikanern, so Tipke.
Der BFH hat auch die Argumentation des FG Niedersachen gegen die bürgerunfreundliche „pro-futuro-Rechtsprechungspraxis” des BVerfG bestätigt. Denn, so der BFH, das „Aussetzungsinteresse der Antragsteller wird dadurch verstärkt, dass das Bundesverfassungs-
NWB Nr. 39 vom 24.09.2007 - 3399 -
gericht . . . nach seiner bisherigen Praxis möglicherweise nicht die Nichtigkeit des § 9 Abs. 2 EStG n. F. feststellen, sondern die Vorschrift lediglich für grundgesetzwidrig ansehen und dem Gesetzgeber mit geräumiger Frist eine Änderung für die Zukunft aufgeben könnte”. Nach der Entscheidung des BFH können nun viele Millionen Steuerbürger auf die Rückkehr der ungekürzten Berufspendlerpauschale nach altem Recht und damit auf eine geringere Einkommensteuerlast hoffen. Und: Für Eltern von erwachsenen Kindern, die zur Ausbildungsstätte pendeln, sind wieder Kindergeld und/oder Kinderfreibeträge wegen Unterschreitens des Grenzbetrags (derzeit jährlich 7 680 €) aufgrund der Fahrtkosten als Werbungskosten möglich. Andere Entlastungen, auch in anderen Rechtsbereichen, etwa: Familien- und Ortszuschläge für im öffentlichen Dienst stehende Eltern, können hinzukommen.
III. Handlungsbedarf für Berufspendler
Wichtig ist, dass mit dem Schwung der Eilbeschlüsse des FG Niedersachsen und des BFH die „richtige” Faktenlage für künftige Entscheidungen des BVerfG in den genannten Vorlageverfahren, für das vielzitierte „letzte Wort”, geschaffen wird. Das heißt: Möglichst viele betroffene Berufspendler sollten möglichst schnell ihre Lohnsteuerkarten 2007 beim Arbeitgeber anfordern, dann beim Finanzamt einreichen und die Eintragung der (ungekürzten) Pauschale nach alten Recht beantragen (bis 30. 11. 2007; § 39 Abs. 5 EStG). Mit den in Kürze verfügbaren Lohnsteuerkarten 2008 sollte ebenso verfahren werden. Nach der (möglichen) Ablehnung des Antrags im Lohnsteuerermäßigungsverfahren sollte Einspruch gegen die Ablehnung eingelegt werden mit dem Antrag auf Ruhen dieses Verfahrens bis zu einer Entscheidung des BVerfG in einem der laufenden Vorlageverfahren.
Formulierungsvorschlag ▶
„Hiermit wird Einspruch gegen die auf der Lohnsteuerkarte 2007 verfassungswidrig nur gekürzt eingetragenen Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eingelegt. Auf die Vorlagebeschlüsse des FG Niedersachsen v. 27. 2. 2007 - 8 K 549/06 und des FG Saarland v. 22. 3. 2007 - 2 K 2442/06 wird hingewiesen; die Aktenzeichen beim BVerfG lauten: 2 BvL 1/07 und 2 BvL 2/07. Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des BVerfG wird erbeten.”
Daneben – dies kann auch mit dem Einspruchsschreiben verbunden werden – sollte vorläufiger Rechtsschutz in Form der Aussetzung der Vollziehung begehrt werden mit Hinweis auf die entsprechenden Beschlüsse des FG Niedersachsen und des BFH.
Formulierungsvorschlag ▶
„Im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes und zwar in Form der Aussetzung der Vollziehung wird beantragt, die Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in vollem Umfang auf der Lohnsteuerkarte einzutragen. Zur Begründung wird verwiesen auf die entsprechenden Beschlüsse des FG Niedersachsen v. 2. 3. 2007 (Az.: 7 V 21/07) und des BFH v. 23. 8. 2007 (Az.: VI B 42/07)”.
Falls das Finanzamt den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ablehnt, sollte rasch ein neuer (wortgleicher) Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht gestellt werden. Nach der Entscheidung des BFH wird wohl kein Finanzgericht mehr einen „ernstlichen Zweifel” an der Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen (gekürzten) Berufspendlerpauschale unterdrücken können. Sein Ziel hätte dann der Berufspendler (vorläufig) er-
NWB Nr. 39 vom 24.09.2007 - 3400 -
reicht: Er zahlt zunächst keine (womöglich verfassungswidrige) Mehrsteuer aufgrund der gekürzten Berufspendlerpauschale.
IV. „Unbürokratische” Hilfe durch das BMF?
Auf der Homepage des BMF (
http://www.bundesfinanzministerium.de) ist am 16. 9. 2007 zu lesen, dass „für Eintragungen von Freibeträgen auf der Lohnsteuerkarte nun ein unbürokratisches und schnelles, gleichwohl dem geltenden Recht entsprechendes, Verfahren gefunden” worden sei. Weiter heißt es:
„Steuerpflichtigen, die wegen der Eintragung eines Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte beim Finanzamt vorsprechen, wird ermöglicht, ihren Einspruch und ihren Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu Protokoll zu erklären. Anschließend wird sogleich im Wege der Aussetzung der Vollziehung der begehrte Freibetrag auch für die ersten 20 Entfernungskilometer eingetragen. Damit kann der Bürger diesen bis Ende des Jahrs geltend machen, obwohl das Gesetz diesen Anspruch nicht vorsieht. Jeder, der jetzt mit einem Freibetrag arbeiten möchte, muss deshalb wissen, dass er über das Jahr zu wenig Steuern zahlt – dies wird dann mit dem Steuerbescheid ausgeglichen werden. Bis das BVerfG eine endgültige Entscheidung in dieser Sache getroffen haben wird, werden Einkommensteuerbescheide ab 2007 wegen der Frage der Abschaffung der Entfernungspauschale von Amts wegen für vorläufig erklärt. Der Steuerfall bleibt dann bis zu einer Entscheidung in Karlsruhe insoweit ‚offen‘. Auch dies dient der Vermeidung von unnötiger Bürokratie im Sinne der Bürger”.
Das vom BMF „gefundene” Verfahren ist kein „unbürokratisches”, sondern eher ein „verfahrenes” Verfahren. Jedenfalls spricht die Voraussetzung, „vorsprechen” und etwas „zu Protokoll erklären” zu müssen, eher für ein sperriges, damit bürgerunfreundliches staatliches Verhalten. Wenn die Spitze der Finanzverwaltung wirklich im „Sinne der Bürger” handeln will, muss sie merklich nachbessern. Einstweilen sollte sich der betroffene Berufspendler allein an der oben unter III dargestellten Verhaltensweise orientieren. Mit Blick auf die Einkommensteuerbescheide für 2007, die (frühestens) im Jahr 2008 von den Finanzämtern herausgegeben werden, ist Folgendes zu beachten: Um seine (vorläufige) Rechtsschutzposition auch nach dem Veranlagungsverfahren zu wahren, sind erneut „Einspruch” und „Antrag auf Aussetzung der Vollziehung” erforderlich. Wer sich dagegen auf den vom BMF angekündigten Vorläufigkeitsvermerk verlässt, wird enttäuscht werden und wird nachzahlen müssen.
Fazit
Das Risiko besteht, dass das BVerfG in zwei oder drei Jahren die gesetzliche Neuregelung der gekürzten Berufspendlerpauschale für verfassungsgemäß hält. Dann müssten viele Steuerbürger die nicht gezahlten Steuern nachzahlen, zzgl. 6 % Zinsen (pro Jahr). Allerdings: Wenn sich zu viele Bürger dadurch von Anträgen auf vorläufigen Rechtsschutz abschrecken lassen, besteht die Gefahr, dass das BVerfG – im Falle einer gegen die Neuregelung ausfallenden Entscheidung – seine „pro-futuro-Entscheidungspraxis” fortsetzt.
NWB Nr. 39 vom 24.09.2007 - 3401 -
Es geht um die Verwirklichung von Grundrechten im Steuerrecht, um vollumfänglichen effektiven Steuerrechtsschutz, gegen weiträumige Übergangsfristen vom Unrecht zum Recht. Dafür tut derzeit die dritte, die rechtsprechende Gewalt des Staates eine ganze Menge. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt zu den (vorläufigen) Entscheidungen des BFH und des FG Niedersachsen am 7. 9. 2007: „Beim Fehlen einer schlagkräftigen parlamentarischen Opposition setzen wenigstens die Gerichte solch obrigkeitlicher Willkür Grenzen”. Der Bürger sollte auch etwas tun: Anträge stellen, Anträge stellen und Anträge stellen! Denn Rechte, die der Bürger nicht nutzt, nutzen sich ab!